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Hansel-Mieth-Preis 2023: Anne Morgenstern & Rudi Novotny

Copyright: Anne Morgenstern

Der Preis für engagierte Reportagen in Wort und Schrift wird seit 1998 von der Reportagen-Agentur-Zeitenspiegel vergeben. Der Hansel-Mieth-Preis 2023 geht an Rudi Novotny (Text) und Anne Morgenstern (Fotos) für ihre Reportage „Ich will eine normale Frau sein. Einfach so“, erschienen im ZEIT Magazin. Die Begründung der Jury: „Die Diskussion um transidente Menschen und ihre Rechte ist meistens abstrakt, oft angstbeladen, geprägt von Vermutungen und Vorurteilen. „Ich will eine normale Frau sein. Einfach so“ erzählt von den Menschen hinter der Diskussion, von Eltern, Großeltern, Ärztinnen und Ärzten. Und von einem Mädchen auf dem Weg zu sich selbst. Autor und Fotografin gelingt dabei eine große Nähe. Trotzdem wahren sie genug Abstand, um auch die Widersprüche zu benennen, die Probleme und Zweifel.“

Herr Novotny, mal ganz generell: Wie entscheiden Sie was erzählt werden muss und was weggelassen werden kann?

Erzählt werden muss immer alles, was die Leserinnen und Leser interessiert und was sie benötigen, um die Geschichte und die Protagonisten darin zu verstehen. Das bedeutet für den Autor auch, dass persönliche Lieblingsszenen weggelassen werden müssen, wenn sie diesen Kriterien nicht entsprechen. Das ist manchmal schon schmerzhaft.

Frau Morgenstern: Rein fotografisch, welche Menschen interessieren Sie?

Grundsätzlich interessieren mich Menschen und insbesondere diejenigen, die (visuell) unterrepräsentiert sind und nicht den gängigen gesellschaftlichen (Schönheits-)idealen entsprechen, aber im einzelnen Fall geht das weiter. Wenn ich merke, dass mehr als eine Geschichte erzählbar ist, wenn Menschen eine Durchlässigkeit zulassen, dann werde ich wach.

Wie kam der Kontakt zu Ella’s Geschichte zustande?

(Novotny) Ich fand es faszinierend, als ich von einem Lehrerfreund hörte, dass sich in seiner Klasse ein 12-jähriges Kind hingestellt hat und sagte, dass es im falschen Geschlecht geboren wurde. In diesem Alter! Auf dem Land! Wie entschlossen muss man da sein? Oder auch: wie verzweifelt? Das schien mir spannend, auch wenn ich damals selbst überhaupt keine Ahnung von Trans-Themen hatte.

Gab es in Ellas Story definierte No-Go’s und andersrum Themen die Ella und ihre Mutter unbedingt in der Story erzählt wissen wollten?

(Novotny) Nein, im Gegenteil. Es gab von vorneherein die Abmachung, dass es keine No-Gos geben darf, sonst funktioniert die Geschichte nicht. Klar war aber auch, dass Ella und ihre Mutter ein Veto hatten, bevor die fertige Geschichte erscheint. Schließlich war Ella zu Beginn noch minderjährig – und bei Erscheinen 20 Jahre alt. Ich habe den beiden dann nach der Fertigstellung die Geschichte an ihrem Küchentisch vorgelesen. Und sie haben nichts geändert.

 

Nach einem kurzen Email-Austausch einigte ich mich mit Ella und ihre Mutter auf ein Treffen, dass bei ihnen stattfand. Dort erzählten sie mir Ella Geschichte, mit allem was bis dahin geschehen war. Und wir besprachen was wir von der jeweils anderen Seite für die Zusammenarbeit erwarteten. Ella war damals sehr klar und zugleich noch sehr kindlich. Aber durch ihre Mutter Sibylle wurde letzteres sehr gut aufgefangen und der Blick auf die Erwachsenenwelt geweitet. Insgesamt war das Gespräch sehr angenehm, auch weil wir eine Bedenkzeit verabredeten. Ein paar Tage später kam dann die E-Mail von Sibylle, dass die beiden bei dem Projekt dabei wären.

Wie fühlt es sich an, wenn man etwas erschafft was vielleicht nicht jeder versteht?

(Novotny) Ich muss sagen, dass ich Glück hatte. Die meisten Kommentare und Leserbriefe waren positiv. Nur vereinzelt gab es kritische Stimmen. Um es einmal ganz generell einzuordnen: Im Nachhinein wurde uns klar, dass wir (das Team des ZEIT-Magazins, die Fotografin Anne Morgenstern und ich) eine Reportage erschaffen haben, die alle Grenzen des Genres sprengt. Ich erinnere mich noch, wie eine ZEIT-Magazin-Redakteurin zu mir beim Überschriften-Machen sagte: „Dir ist bewusst, dass es so etwas vorher noch nie gab.“ Dieses Gefühl hatte ich persönlich bis dahin verdrängt, sonst hätte ich die Geschichte nie schreiben können. In Anbetracht dessen: Dass manche Menschen die Geschichte nicht verstehen und kritisieren ist ihr recht. Das gibt es bei allen gesellschaftlich relevanten Texten. Für mich persönlich nehme ich das gerne in Kauf, im Tausch gegen das Glücksgefühl mit einem tollen Team etwas Bleibendes geschaffen zu haben. Wieviel Menschen können das schon von sich behaupten? Das ist ein riesiges Privileg.

 

Daran angeschlossen: Wie fühlt es sich an, wenn man etwas erschafft das einen gesellschaftlichen Einfluss hat?

 

Wie schon in der vorherigen Frage – rückblickend verspüre ich da nur Glück. Aber vielleicht lässt sich das mit dem Bau einer Pyramide vergleichen: Während man die Steine organisiert und aufeinanderschichtet, verschwendet man daran keinen Gedanken. Da liegt man nachts wach und sorgt sich, das alles klappt. Erst später, wenn man einen Schritt zurücktritt, kann man sich freuen. Wichtiger als mein Gefühl wäre mir aber, dass dieser Text die Menschen dazu bringt, einander mehr zuzuhören. Oder, um es fast esoterisch zu formulieren: Im Gegenüber nicht einen Gegner, sondern den Mitmenschen zu erkennen, der so hofft und zweifelt wie man selbst.  

 

 

Wie schaffen Sie es Nähe aufzubauen, ohne distanzlos zu wirken?

(Morgenstern) Im Moment des Fotografierens spielen jegliche gesellschaftliche Kategorien keine Rolle mehr. Ich versuche (eigentlich bestehe ich darauf) vorurteilsfrei und unverstellt den Menschen zu begegnen. Ich informiere mich auch möglichst wenig über die Personen.

Ich brauche viel Zeit, ich höre zu, schaue sie genau an, schenke ihnen Aufmerksamkeit. Das ist heutzutage ungewohnt und macht etwas. Ich lasse sie sich ausprobieren, aber wenn ich merke, dass sie versuchen einen Rolle zu spiele, bitte ich sie das zu unterlassen. Im besten Falle geben sie den Widerstand auf und es entsteht eben dieser Raum in dem Schönheit passieren kann.

Ihre ganz persönliche Definition von Schönheit?

(Morgenstern) Ich glaube Schönheit ist nicht einfach da, Schönheit passiert zum Beispiel wenn die Person zu sich selber findet und unverstellt ist. Es sind Momente in denen sich Menschen gesehen fühlen, fragile Momente in den Verletzbarkeit und Selbstermächtigung zusammen kommen, Momente in denen man die Selbstbeobachtung vergisst.

Wie findet man eigentlich seinen ganz persönlichen fotografischen Stil?

(Morgenstern) Ich habe mir unendlich viele Bilder angeschaut. Und in dieser Flut von Bildern gibt es ganz wenige, die wirklich etwas mit mir machen. Es sind Bilder, die über das Abgebildete hinaus erzählen. Immer und immer wieder habe ich diese Bilder untersucht, was sie ausmachen, und auch darüber gelesen. Und natürlich selbst viel fotografiert und ausprobiert.

 

Und wie würden Sie Ihren beschreiben?

Joerg Colberg hat es mal so beschrieben: „Was an Annes Arbeit auffällt, ist ihre Fähigkeit, die Dinge mit einer Bildsprache zu vermitteln, die – in Ermangelung einer besseren Beschreibung – zunächst visuell reizvoll ist, bevor sie auf den Punkt kommt.“

 

Tatsächlich hat meine Arbeit etwas sehr haptisches, man kommt über Oberflächen, Farben, Bildkompositionen in das Bild hinein. Das einzelne Bild steht aber für sich und erzählt nur bedingt eine Geschichte. Erst in Kombination mit anderen Bildern kommt das Erzählerische hinzu und Räume öffnen sich.

 

Mehr zu den Arbeiten von Anne Morgenstern

Mit wie vielen Menschen haben Sie für den Text gesprochen?

(Novotny) Die genaue Anzahl kann ich nicht beziffern. Zwei Dutzend? Es waren allerdings nicht unendlich viele, da der Artikel auf eine Art ja fast ein Kammerspiel ist. Es gibt die Familie, die Freundinnen und die behandelnden Ärzte. Ich habe bewusst niemand sonst hinzugezogen, da der Text meines Erachtens seine Stärke dadurch gewinnt, dass jede Person direkt mit Ella zu tun hat. Außerdem schien mir nichts zu fehlen, weil die Ärzte auch die gesellschaftliche Ebene abdecken.

Sie sind als Mann in eine reine „Frauenwelt“ (Ella, Ellas Mutter, Freundinnen …) eingetaucht und waren bei viel „Girls-Talk“ dabei. Wurden Sie nie als „Fremdkörper“ empfunden? Und wenn ja, wie löst man das?

Sibylle hatte als Erwachsene mit meinem Mann-sein nie ein Problem. Ella war dagegen zu Beginn noch etwas zurückhaltend, wohl weil sie wirklich jung war. Doch je älter sie wurde und je besser wir uns kannten, desto weniger spielte mein Mann-sein eine Rolle. Abgesehen davon, dass ich nicht gerade der bedrohliche dominante Zwei-Meter-Mann bin, war hier auch meine tolle Fotografin Anne Morgenstern ganz entscheidend. Sie hat vor allem am Anfang als Frau und dank ihrer direkten Art, das Ei gebrochen. Ohne Anne wäre diese Geschichte also wohl nie so ins Rollen gekommen.

Wie schwer war es die Headline des Artikels zu finden und warum ist es genau die geworden?

(Novotny) Für die Headline brauchten wir einige Stunden – schließlich sollte sie offen sein, aber zugleich den Kern der Geschichte spiegeln. Die Transproblematik ebenso wie das Erwachsenwerden. Genau das erfüllt diese Zeile nun. Ich persönlich mag vor allem das „normal“. Denn genau dieses „Normal“ ist Ellas Sehnsucht, ebenso wie die von jungen Menschen generell. Eigentlich von uns allen. Dabei gibt es dieses „Normal“ gar nicht.

„Und die Moral von der Geschicht‘“ aka: Was nehmen Sie ganz persönlich mit?

Meine „Moral von der Geschicht“ ist, dass wir bei solchen Reizthemen weniger abstrakt streiten sollten, sondern lieber versuchen zu verstehen, in dem wir ohne Vorurteile erstmal mit den Betroffenen reden. Und diesen Betroffenen, auch wenn sie keine Professoren oder Politiker oder Fachleute sind, zugestehen, dass sie über ihr Schicksal selbst entscheiden können. Auch dann, wenn wir ganz anders handeln würden.

 

Der Hansel-Mieth-Preis bedeutet für Sie:

(Morgenstern) Es ist wunderbar zu sehen, wenn die eigene Arbeit eine gesellschaftliche Relevanz hat und dafür einen Preis zu erhalten, der nach einer bedeutenden FotografIn benannt ist, ist um so schöner und wichtiger für mich.

(Novotny) Der Hansel-Mieth-Preis ist ein unendlich toller Preis, weil er nicht nur die Arbeit eines einzelnen würdigt, sondern die des Teams. Und bei dieser Geschichte war es eben genau so: Ohne Anne Morgenstern wäre das nichts geworden. Dass so explizit ein Zusammenspiel gewürdigt wird, das ist einzigartig. Und es passt auch in eine Zeit, in der Zusammenarbeit immer wichtiger wird. Zudem ist die Namensgeberin selbst eine beeindruckende Figur. Wobei mir in diesem Zusammenhang einfällt, dass Anne Morgenstern die erste Fotografin ist, die diesen Preis erhält. Auch das ist ein Anlass zum Feiern.